Dunkle Flüsse von Peter Nathschläger

 

„Hochfahren und danach verbinden; welcome, Willkommen an Board, die Maschine wird es finden, ein dreckiges Wort; und… und… Denk dir eine Farbe, wünsch dir irgendeine Zahl, 19 year old redhead, das ist deine Wahl. Und du verliebst dich in Gespenster; Schwarz glänzt Strafe und Belohnung, ein Strick, einen Augenblick, du gehst in eine Wohnung, du gehst auf ´Zurück´…“

So beginnt das Lied „Gespenster“ des androgynen Heroen Jens Friebe, in dem er in kryptischer Weise von der üblen Internetsex-Industrie singt. Jedem von uns ist bekannt, dass es im Internet genügend Möglichkeiten gibt, an perverse Videos zu gelangen, in denen Jugendliche auf schlimmste Weise vergewaltigt, kleine Mädchen nackt gezeigt, kleine Jungen missbraucht werden. Davon handelt unter anderem auch dieser Roman von Peter Nathschläger. Ein siebenjähriger Junge wird von einem brutalen, gemeingefährlichen Irren entführt, der sich als Polizist ausgibt und behauptet, dass die Eltern des Kleinen tot wären. Der Wahnsinnige schafft es, sich falsche Papiere für den Jungen zu beschaffen, und sie leben fortan als Onkel und Neffe in einem kleinen Nest. Er zwingt ihn zur Prostitution und quält ihn täglich mehr und mehr, was er alles auf Video aufnimmt und für viel Geld im Internet verkauft. Erst neun Jahre später kann der Junge flüchten und damit beginnt eine Odysee durch Amerika, in der der Jäger Frank seine Beute, den sechzehnjährigen David, der Patrick genannt wird, jagt. Es ist ein Buch über die dunklen Flüsse menschlicher Grausamkeit, die David unter anderem in einem Internat für elternlose Jungen erlebt, in der grausame Aufseher die Jungen tyrannisieren. Dort lernt er einen stummen Jungen namens Mark kennen, durch den sich sein Leben verändert.

Manchmal ist es ungeheuer schwer über eine CD, einen Film oder ein Buch zu urteilen. Ich denke beispielsweise an den Film „Irreversibel“, der im letzten Jahr für Furore sorgte. Er fiel durch seine ekelhafte Brutalität auf und verstörte Zuschauer wie Kritiker. Da muss man mehrere Augenblicke innehalten, bis man in der Lage ist, etwas Vernünftiges, Objektives sagen zu können. So erging es mir auch bei diesem Buch. Ich musste mich oft dazu zwingen weiterzulesen. Während ich bei Sex hoch zwei von Sibylle Berg nach fünfzig Seiten vor lauter Ekel aufhören musste zu lesen, befahl ich mir in diesem Fall, das nicht zu tun. Ich quälte mich durch Stellen wie diese:

„Patrick kam ächzend wieder hoch und versuchte gerade zu stehen, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Frank boxte noch einmal auf die gleiche Stelle und Patrick übergab sich. Frank grinste zufrieden und gab ihm Ohrfeigen, verschmierte das Erbrochene in Patricks Gesicht, stieß ihn um und trat ihn mit den Füßen. Patrick brüllte vor Schmerzen, verschluckte sich an seiner Kotze. Er würgte und kreischte wie ein Vogel, dem man die Flügel brach. Frank nahm die Kamera aus der Halterung und hielt sie sich ans Gesicht. Er filmte, wie Patrick auf dem Boden kroch und schrie. Frank holte die Reitgerte und drosch damit auf Patrick ein, bis Blut floss…“

Lange Zeit war ich an solchen Stellen fassungslos und wusste nicht mehr weiter. Was sollte mir dieser Roman sagen, und vor allem was sollte ich über diesen Roman sagen? Ich konnte nur Ekel und Grauen verspüren, mehr nicht. Nach ungefähr der Hälfte des Romans fragte ich mich dann: Warum gibt es denn diese ganzen Stellen? Um das perverse Publikum zu befriedigen? Männer, die darauf stehen, wenn jugendliche Skater auf das Übelste vergewaltigt und fast umgebracht werden, um sich dann einen runterzuholen? Wieso braucht dieser Roman immer ekelhaftere, grausamere Vergewaltigungen und sogar Tode? Was bezweckt der Autor damit? Ich kann darauf keine Antwort geben. Vielleicht nahm er sich seinen Landsmann Michael Haneke zum Vorbild, der in seinen Filmen ebenfalls die sinnlose Brutalität einzelner Menschen, die sich daran aufgeilen, zum Sujet nimmt. Der allerdings eine Message hat, die er dem Publikum vermitteln kann.

Ich kann etwas anderes beurteilen. In „Irreversibel“ zeigt die zweite Hälfte des Films, die nicht brutal ist, sondern von Lebensfreude und Romantik sprüht, dass der Film ein Kunstwerk ist, von einem Regisseur, der sein Handwerk versteht. Die letzten Seiten dieses Romans offenbaren allerdings, dass der Autor Nathschläger sein Handwerk nicht versteht. Da wird David von den Internatsschülern plötzlich David genannt, obwohl sie ihn nach wie vor nur beim Namen Patrick kennen; da gelingen immer weniger die Übergänge der einzelnen Kapitel; da wiederholt der Autor innerhalb eines Absatzes ständig die gleichen Worte, die gleichen Formulierungen; da schreibt er, dass der neue Polizeichef den Internatsleiter nicht leiden kann, aber ihm mit höflichem Misstrauen entgegentritt, und wenn sie sich kurze Zeit später dann tatsächlich in dem Roman begegnen, erkennt der Internatsleiter diesen Polizeichef gar nicht, weiß noch nicht einmal, dass dieser nun diese Stelle innehat; da quält er uns arme Leser, die nach den Gewaltorgien, dieses Buch noch nicht völlig verstört weggelegt haben, mit Belanglosigkeiten, Worthülsen und schwülstigen Gemeinplätzen.

„Mark Fletcher ging durch die offene Pforte in den Garten zu den beiden hin. Die Liebe und Fürsorge lag hier wie ein Duft im Garten, ein Geruch von Reinheit. Der Geruch einer Wiese nach dem Regen.“

„Dann standen sie wohl eine Viertelstunde nebeneinander, wortlos, sprachlos.“

„David lächelte und neun Jahre Schmerz und Trauer, Angst und Terror fielen von ihm ab, in einem unsagbar schönen Lächeln; all die Pein fiel von ihm ab und sank als grauschwarzer Donner in die Geschichte ein.“

Völlig aus der Luft gegriffene Dialoge wie z.B. derjenige, den die Eltern Davids führen, nachdem sie ihn das erste Mal nach neun Jahren wieder sehen und noch gar nichts über die vergangene Zeit wissen, runden das negative Bild ab:

„Sie lieben sich.“ – „Ja, Cove. Ich weiß.“

„Irgendwann und irgendwo auf ihrer Reise haben die beiden beschlossen, sich zu lieben, oder es kam einfach so.“

„Du meinst, dass sie miteinander… du weißt schon…“

„Nein, glaub ich eigentlich nicht… Und wenn, wäre es mir völlig egal.“

„Mir auch.“ – „Sie lieben sich, wie Brüder sich lieben. Aber ihnen fehlt die Tiefe von Brüdern, die miteinander aufgewachsen sind, ihnen fehlen die Reibereien und der Streit, dieses aneinander wachsen. Glaub´ ich.“ …

Eine Kritik hat viele verschiedene Aufgaben. Eine davon ist, dem Leser bzw. der Leserin eine Orientierung zu geben, was er/ sie lesen sollte und was nicht. Doch selbst, wenn der Kritiker bzw. die Kritikerin vom Buch abraten, kann sich das Lesepublikum bewusst gegen diese Empfehlung stellen. In diesem Fall vielleicht, weil es von so viel Grausamkeit und Ekel fasziniert ist und dabei einen Kick erhält, oder weil es jemanden anmachen könnte, wenn schutzlose Kinder und Jugendliche erniedrigt und gebrochen werden, oder weil es nach so viel Ungerechtigkeit und Perversion ein schönes schwülstiges Happy-End gibt… Ich kann dazu nur sagen, dass dies für mich, auch wenn dies das Cover noch eventuell auf den ersten Blick versprochen hat, keine so genannte Einhand-Literatur ist, im Gegenteil: nichts konnte mich mehr Abtörnen als diese von Gewalt triefenden unsäglichen Vergewaltigungsszenen.

Der Roman „Dunkle Flüsse“ von Peter Nathschläger ist 2005 im Himmelsstürmer Verlag erschienen, umfasst 219 Seiten und ist für 14,90 Euro im Fachhandel erhältlich.

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