Empörung von Philip Roth

 

Eine Frage wird den geneigten Zuhörer/ die geneigte Zuhörerin beschäftigen. Wieso wird dieser Roman bei Radiosub besprochen? In anderen Rezensionen taucht der Grund noch nicht einmal mit einem Satz auf. Doch ich möchte ihn später etwas näher ausführen: es handelt sich um den zwischenzeitlichen Zimmergenossen des Helden der Geschichte. Er heißt Flusser, ist homosexuell und heimlich in Markie verliebt.

Philip Roth ist ein Phänomen. Mittlerweile 76 Jahre alt, schreibt er und schreibt er. Er wird nicht etwa schlechter oder seniler. Redet keinen Quatsch wie manch alternder Autor in Deutschen Landen. Seine Sprache und seine Themen verdichten sich immer mehr. Und Literaturexperten fragen sich, wieso diese Jury in Schweden ihm den Literaturnobelpreis nicht endlich verleihen möchte. 

Nachdem in den letzten Romanen die Hauptfiguren gemeinsam mit dem Autoren gealtert sind, wendet sich Philip Roth in EMPÖRUNG einem Helden zu, der in seiner Jugend steckt. Und übrigens immer stecken wird. 

„Körperlos in dieser Grotte der Erinnerung, erzähle ich mir rund um die Uhr in einer uhrenlosen Welt immer wieder meine eigene Geschichte und habe dabei das Gefühl, dies schon seit Millionen Jahren zu tun. Soll das wirklich immer so weitergehen – in Ewigkeit meine mickrigen neunzehn Jahre, während alles andere abwesend ist, meine mickrigen neunzehn Jahre unentrinnbar hier, permanent gegenwärtig, während alles, was diese neunzehn Jahre real gemacht hat, während alles, was einen mitten dort hineingestellt hat, ein unerreichbar fernes Trugbild bleibt?“

Es wird klar: Dieser jugendliche Erzähler berichtet aus dem Jenseits. Verstorben mit 19 Jahren. Doch wie kam es dazu? Der Junge heißt Marcus Messner und wir befinden uns im Newark des Jahres 1951. Es ist das zweite Jahr des Koreakriegs. Doch er studiert nicht in New Jersey, sondern flüchtet in ein konservatives College in Winesburg, Ohio. Dies tut er, weil er seinen Vater, einen jüdischen Metzger nicht erträgt. Dieser Vater, mit dem er sich jahrelang so gut verstand. Dem er beim Schlachten half, obwohl er Blut hasste, Angst davor hatte. Dem er half, obwohl es ihm vor seinen Mitschülern peinlich war. Doch dieser Vater wird scheinbar verrückt, verrückt vor Angst vor den Gefahren des Erwachsenenlebens. Den Gefahren der Welt, den Gefahren, die er hinter jeder Ecke auf seinen heißgeliebten Sohn lauern sieht. Und die meiste Angst hat er davor, dass der Junge nach Korea muss. Genau das passiert letzten Endes auch. Doch bis dahin erlebt er einige verstörende Dinge. Darunter gehört das Kennenlernen eines fragilen jungen Mädchens, das etwas Unerhörtes tut. 

„Aber sie brauchte nicht aufzuhören, sie brauchte nicht einmal anzufangen, denn schon ejakulierte ich hoch in die Luft, und während der Samen auf die Bettdecke regnete, rezitierte Olivia mit lieblicher Stimme: ‘Ich schoss einen Pfeil hoch in die Luft / Wo fiel er hin? Das wusste ich nicht’, und zwar genau in dem Augenblick, als die Krankenschwester zur Tür hereinkam, um meine Temperatur zu messen.“

Das war dann das zweite Mal, dass sie ihm einen blies. Schon das erste Mal nach ihrer ersten Verabredung im Auto: eine unerhörte Begebenheit im prüden Amerika. Doch er verhält sich ihr gegenüber nicht adäquat, ist mit ihr und ihrer Art überfordert. Er verkennt sie. Und verliert sie damit. Und noch schlimmer…

Sein Übervater macht Markie verrückt, so dass er fliehen muss. Und hier in diesem vermeintlich konservativen College lernt er die Em-pö-rung, die In-dig-na-tion, kennen. Ein Wort, das ihm gefällt. Diesem netten jungen Mann, der immer alles so tat, wie er es sollte, ein Prachtsohn war. Der sein Zimmer tauschte, weil die anderen ihm zu viel Tumult machten. Er möchte seine Ruhe haben, lernen, Einsen schreiben. Doch in einem Gespräch mit dem Dean seines Colleges kommt es zum Eklat. Sie führen Wortgefechte. Markie wirft dem Dean die Atheismus-Thesen Bertrand Russells entgegen und kotzt nachher. 

Nachdem er nach seiner Blinddarmoperation aus der Krankenstation entlassen wird, geht er wieder zurück in sein Zimmer. Er entdeckt, dass da jemand rumgewütet hat. Bettlaken und Kissen sind überall verstreut, die Matratze und der Fußboden übersät mit dem Inhalt seiner Schubladen, überall liegen Kleider herum. Und Müll. Essensmüll, Flaschen, Schachteln. Es stinkt gewaltig.

„Als ich im Krankenhaus gelegen hatte, musste jemand in meinem Zimmer kampiert und Tag und Nacht in so ziemlich alles masturbiert haben, was ich besaß. Und das war natürlich nicht Olivia gewesen. Sondern Flusser. Das konnte nur Flusser gewesen sein. Ich räche mich an eurer ganzen Rotte. Und dieses Ein-Mann-Bachanal war seine Rache an mir.“

Marcus Messner gehört nicht dazu. Er provoziert solche Akte, weil er sich heraushält. Weil er keine Konflikte angehen kann. Nicht adäquat auf bestimmte Situationen eingehen kann. Blind dagegen ist. Auch gegen die Gefühle Flussers, den er immer nur als Störenfried wahrnehmen kann. Als einen, der ihn auf seinem Weg stört, aber der nicht zu seinem Leben gehört. So ähnlich verhält er sich Olivia gegenüber. Markie kann keine Empathie fühlen, sich nicht in andere Menschen hineinversetzen. Umso überraschender ist dann die Empörung, die ihn plötzlich gegen alles revoltieren lässt. Wo kommt sie her? Wer hat sie wie heraufbeschworen? Die Lösung dieser Fragen steckt im Ungesagten dieses Romans.

Einmal mehr schafft es Philip Roth über die Beschreibung der Vergangenheit, den Korea-Krieg und die McCarthy-Ära, einen gegenwärtigen Zustand der Welt zu erklären. Dieses Jahr 1951 könnte heute sein. Korea der Irak- oder Afghanistan-Krieg. Der Ort ein konservatives College des gegenwärtigen Amerika. Seine letzten Themen Krankheit, Vergänglichkeit, Tod steigert er damit, dass seine Hauptfigur aus dem Jenseits erzählen lässt. Und vor allem steigert er die Thematik auch damit, dass er seinen Helden nicht lange leben und aus nichtigen Gründen zu früh sterben lässt.

Dieser gelungene Roman des zukünftigen Literaturnobelpreisträgers Philip Roth ist Anfang 2009 im Hanser Verlag erschienen. Er umfasst 208 Seiten, hat ein nicht schön gestaltetes Cover, wie man erwähnen muss, und ist für 17,90 Euro im Fachhandel erhältlich. 

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