Water Lilies – Naissance des pieuvres von Céline Sciamma

 

In diesem Film ist die 15-jährige Marie (Pauline Acquart) die Hauptperson, die an sich selbst und an ihrer Identitätsfindung leidet. Wir beobachten sie, wie sie zu Beginn des Films die Auftritte der Synchronschwimmerinnen verfolgt. Sie bewundert die reifer wirkende, hübsche Floriane (Adèle Haenel), die diese Gruppe führt. Zugleich ist die Außenseiterin Marie mit der leicht übergewichtigen Anne (Louise Blachère) befreundet: eine kindlich-verschworene Freundschaft, die sakrosankte Züge trägt und die zunehmend überschattet wird von der Rivalität zwischen Floriane und Anne, die um den gleichen Jungen buhlen. Doch die sich entwickelnde Distanz hat noch einen anderen Grund: Marie ist in Floriane verliebt und möchte alles tun, um ihr zu gefallen. Zum Beispiel deckt Marie sie, damit Floriane den angehimmelten Francois treffen kann. Aus dieser Vertrautheit entsteht eine intime Nähe, die in eine ungeahnte Richtung geht.

Ursprünglich hatte Céline Sciamma das Drehbuch als Abschlussarbeit an der Filmhochschule „La Fémis“ verfasst, doch der Dozent Xavier Beauvois überredete die Autorin dazu, ihren eigenen Stoff auch selbst als Regisseurin zu verfilmen. Der Film feierte schließlich seine Premiere im Jahre 2007 beim Filmfestival von Cannes, wo er in der Reihe „Un certain regard“ gezeigt wurde.

Sciamma inszenierte einen sehr ruhigen, verhaltenen Film, in dem es weniger um viel Handlung oder lange Dialoge geht, sondern mehr um die Emotionen, die die fabelhaften Jungschauspielerinnen darstellen sollen. Nähe und Distanz zwischen den Figuren werden nicht durch Worte dargestellt, sondern durch Gesten und Blicke. Die Nöte der Pubertät, die damit verbundenen Sehnsüchte, die Identitätssuche und die Enttäuschungen sieht man in den Gesichtern und den Körperhaltungen.

Eines der Themen dieses Films ist der Schein und das Sein: in verschiedenen Einstellungen wird dies in den Aufführungen der Synchronschwimmerinnen gezeigt. Über dem Wasser lächeln die schön geschminkten, dünnen Mädchen und bewegen sich anmutig, während sie unter der Wasseroberfläche strampeln und zappeln. Dies wird dann in der Kapitänin Floriane auch auf eine andere Ebene gespiegelt: die Umgebung glaubt, dass sie eine „Schlampe“ ist und schon mit vielen Männern geschlafen hat, z.B. mit Francois, aber auch mit einem der Trainer. Diese scheinbare Abgeklärtheit  ist allerdings nur Schein und in Wirklichkeit ein Selbstschutz. Sie hat genauso wie die anderen Mädchen Angst vor dem ersten Mal.

Dieser Film ist atmosphärisch dicht und wirkt deswegen so eigenartig, weil kaum Erwachsene auftreten. Die Eltern von Marie und Anne zum Beispiel tauchen im gesamten Film nicht auf. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Handlungsorten: meist sind die Figuren im Schwimmbad, einem Ort, den Sciamma folgendermaßen beschreibt:

„Für mich ist es ein schwüler Ort, wo Begierden geboren und Dinge offenbart werden.“

Die Regisseurin möchte ebenso die angesichts Olympia aktuelle Frage von strenger Kontrolle und Disziplin beim Sport thematisieren. Die Mädchen werden genau überprüft, ob sie sich enthaart haben, ob ihre Frisuren und ihr Makeup sitzen, ob sie genug Muskeltraining gemacht und Diät eingehalten haben. Der sterile, kalte Raum der Schwimmhalle scheint diese militärisch anmutende Zurichtung noch zu unterstützen. Und doch ist dies zugleich der Ort, an dem die Konzentration auf den Körper verborgene Blicke und sexuelle Phantasien weckt. Dieses veranschaulicht sie durch die verstohlenen Blicke Maries, aber auch der Jungen um Francois bzw. dem jugendlichen Trainer, der Floriane verehrt und nachstellt.

Es gibt Filme, deren Inhaltsangabe man liest und denkt: oh je, das ist doch nichts, was mich interessiert! Was will ich mit einem Coming-of-Age-Film, der von kleinen Mädchen handelt, die zu allem Überfluss Synchronschwimmerinnen sind? Und dann stellt man fest: Der Film ist ja wirklich gut, ja, man wundert sich, wie gut man sich unterhalten oder inspiriert fühlte. Dies geschieht hier.

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